Kontrollverlust
Ich schätze, Kontrolle kann man nur verlieren, wenn man vorher glaubte, sie besessen zu haben.
Ein einfaches Resümee, das Michael Seemann hier zieht. Ich sehe in diesem kurzen und knappen Befund aber ein Phänomen, das auch andere Bereiche umfasst, als mspr0 hier umreißt.
Ich frage mich bei solchen Aussagen ja immer: Habe ich Kontrolle über mein Leben? Über mein Umfeld? Habe ich die Kontrolle verloren? Ich finde die Fragen spannend, weil die aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland oft mit Aussagen einhergehen, dass Menschen empfänden, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben. Gehe ich in mich, muss ich die Fragen mit "nein", "nein" und "hatte ich nie" beantworten.
Das ist natürlich sehr verallgemeinert. Es gibt Bereiche in meinem Leben, über die ich die Kontrolle habe, über andere habe ich sie nicht. In wiederum anderen Bereichen habe ich gute Chancen, Kontrolle zu erlangen, wenn ich mich engagiere.
Politisch und wirtschaftlich sah ich mich jedoch nie in der Position, Kontrolle zu haben. Ich empfand das auch nie als schlimm, denn Menschen sind soziale Tiere: Wir können uns in Gemeinschaften einbringen, aber keine Kontrolle über sie ausüben. In der Wirtschaft gibt es das Phänomen, dass einzelne Individuen ein Maß an Kontrolle erlangen können, das sicher den Eindruck erwecken kann, tatsächlich Kontrolle zu haben. Und es gibt den Mythos, dass, wer sich nur genug anstrenge, seines eigenen Lebens Herr werden können.
Als Mann mag ich mich da weit aus dem Fenster lehnen, ich wag es aber trotzdem. Ich denke, gerade beim letzten Punkt gibt es eine stark gegenderte Schieflage, denn Kontrolle zu haben gehört zur männlichen Rollenvorstellung, oder scheint es zumindest. Frauen lernen sehr früh, sich in Gewässern zu bewegen und bewegen zu müssen, wo sie keine Kontrolle ausüben können. Vielleicht hat das auch Auswirkungen auf die Berufswahl; ich will den Gedanken später nochmal aufgreifen.
Männer ziehen einen großen Teil ihres Selbstverständnisses daraus, von sich behaupten zu können, sie hätten die Kontrolle – über sich, über ihr Leben, über ihr Umfeld. Zu akzeptieren, dass andere über das eigene Leben entscheiden könnten, wird als unmännlich und sogar emaskulierend empfunden. In vielerlei Hinsicht bedeutet "Kontrolle zu haben", bekannte Umstände navigieren zu können. Unter verändernden Umständen jedoch taugen die eingeübten Navigationsfähigkeiten nicht mehr, es folgt das Gefühl des Kontrollverlusts und im Falle von konventionell männlich denkenden und fühlenden Männern wohl auch das Gefühl eines Angriffs auf die eigene Männlichkeit.
Frauen haben sich, wie ich oben erwähnt habe, früh damit arrangiert, weniger Kontrolle über ihr Umfeld zu haben, und orientieren sich eher im Rahmen des Möglichen der jeweiligen Situation. Frauen definieren ihre Geschlechtsperformance nicht in dem Umfang wie Männer darüber, Kontrolle über ihr Leben zu haben.
Jetzt gibt es eine Partei des Kampfes gegen den empfundenen Kontrollverlust: Es ist die Alternative für Deutschland, die AfD. Die AfD ist das Sammelbecken all derer, die das Gefühl des Kontrollverlustes haben. Die Welt verändert sich, und die AfD macht das Versprechen, die Welt wieder auf den gewohnten Pfad zurückführen, eine gefühlte alte Ordnung wiederherstellen zu können.
Ich bin kein Politwissenschaftler, meine Aussage ist kein Absolutum, sondern nur meine Sichtweise, der Versuch, Sinn zu erzeugen aus dem, was ich sehe.
Die AfD ist natürlich mehr als nur das. Sie ist, was sie vorgibt zu sein, sie ist eine Projektionsfläche für Mitglieder und für Wähler*innen, für Gegner*innen und Beobachter*innen, und somit ist sie auch das, was auf sie projiziert wird.
Aber "Kontrollverlust" ist auch ein Schlagwort, das aus den Reihen von AfD und ihren Sympathisant*innen zu hören ist. Die Flüchtlinge ab 2015, die Alternativlosigkeit in den Merkeljahren, die Klimakrise, die Pandemie – es gibt vieles, was instrumentalisiert werden kann, um einen Kontrollverlust herbeizureden.
Es gibt einen Gendergap bei den Unterstützer*innen der AfD. Es gibt sie auch bei den Wähler*innen der Republikaner. Es gibt ihn in der Parteipräferenz bei den Erstwähler*innen. Jungen und Männer neigen viel stärker dazu, Parteien zu wählen, die die Geschichte von der Kontrolle über das eigene Leben propagieren oder auch den Kontrollverlust beklagen. Die Republikaner fordern die Mauer an der Grenze nach Mexiko, und sie werfen ihren politischen Gegnern immer wieder vor, das Land nicht im Griff zu haben. Law & Order als Form von Kontrolle spricht generell eher Männer an als Frauen.
Kontrolle ist ein Weg, Sicherheit zu erlangen. Die beiden Begriffe sind nicht synonym, das eine folgt nicht aus dem anderen, sie bedingen sich vielleicht nicht einmal gegenseitig, aber sie sind assoziativ dicht beisammen.
Veränderungen verunsichern. Unsicherheit deutet an, keine Kontrolle zu haben.
Wer auch Kontrollverlust verspürt, wer auch die wählt, die Gewohntes zu konservieren versprechen, sind ältere Menschen. Es heißt, man werde konservativer, je älter man wird. Alter bedingt, im Laufe des Lebens mehr Veränderungen in der eigenen Lebenszeit angehäuft zu haben. Der Schock der Veränderungen ist natürlich umso größer, je länger man sein Leben leben konnte, ohne bewusst die Veränderungen um einen herum wahrnehmen zu müssen. Wer ein Leben von 60 Jahren führen konnte, in dem Homosexualität nicht vorzukommen schien, kriegt dann die Veränderungen von 40 bis 50 Jahren mit einem Schlag serviert.
Ich kann mir vorstellen, dass das ein sehr privilegiertes Leben war.
Wer 40 Jahre im Kohleberg- oder -tagebau geschuftet hat, um dann erst lernen zu müssen, dass die eigene Arbeit Anteil am Klimawandel trägt, kann davon auch komplett überfordert sein.
Wenn die Opfer unseres Wohlstandes vor der Tür stehen, und wir uns der Wahrheit stellen müssen, dass wir nicht nur geschaffen, sondern auch ausgebeutet haben, dann sind auch das Erkenntnisse von Jahrzehnten auf wenige Augenblicke komprimiert.
Die Augen vor Veränderungen verschließen zu können, ist ein Privileg.
Es ist wohl nur zu verständlich, wenn sich Menschen um Sicherheit in ihrem Leben bemühen. Und Kontrolle über das Umfeld auszuüben, ist eine Art, diese Sicherheit erlangen zu wollen. Für Frauen sind Männer ein Quell der Unsicherheit, männlich dominierte Arbeitsumfelder ein beständiger Kontrollverlust, der sich leichter in weiblich dominierten Arbeitsumfeldern bewältigen lässt. Safe spaces, von rechter, konservativer und männlicher Seite gerne verspottete Bereiche von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans, queeren und anderen Menschen, um Sicherheit durch Kontrolle des Umfeldes zu erzeugen. Auch People of Color haben sich ihre safe spaces errichtet, um nicht der Unsicherheit durch Weiße Menschen ausgesetzt zu werden.
Für viele Menschen ist Unsicherheit durch Unkontrolle Alltag. Und diejenigen, die den Kontrollverlust am lautesten beklagen, sind für diese Menschen nur allzuoft in der Vergangenheit der Grund für die Unsicherheit.
Ich stimme mspr0 zu. Kontrolle kann man nur verlieren, wenn man vorher glaubte, sie besessen zu haben. Ich möchte Kontrolle aber auch als Selbstlüge, als Illusion betrachten, zumindest für das Gros der Menschen. Unter großem Einsatz von Ressourcen lässt sich vielleicht individuelle Kontrolle erzeugen, aber ich wage zu behaupten, dass das für die meisten Menschen keine realistische Perspektive ist.
Ich persönlich neige dazu, die Zustände der Vergangenheit nicht zu idealisieren, und flexibel und spontan auf veränderte Umstände zu reagieren. Für Segelmetaphern bin ich im Thema nicht tief genug drin, aber Stürmen trotzt man wohl nicht, indem man sich ihnen entgegenstemmt.
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